Am frühen Morgen des 11. April 2022 starb der Autor der Edition Critic, Freund und preisgekrönte Schriftsteller Wolfgang Brosche in einem Krankenhaus in Bielefeld. Er wurde 64 Jahre alt.
Wolfgang Brosche (1958-2022)
Ein Glück, dass er ironischerweise mit einer Krankenhauspastorin eine Patientenverfügung geschrieben hatte vor einigen Wochen. Wolfgang hatte keine Angst vor dem Tod, weil er nicht an ein Leben nach dem Tod glaubte, aber das Sterben wollte er aktiv mitbestimmen. Er wollte unbedingt selbstbestimmt sterben und – im Fall der Fälle – nicht von Geräten am Leben erhalten werden.
Wolfgang hat noch so viele Gedanken zur Kritik des medizinischen Alltags im Krankenhaus oder mit der ambulanten Pflege aufschreiben wollen, ein Buch hätte es werden sollen, neben all den vielen anderen Projekten. Das erzählte er mir so oft und er hatte solche Lust, mit diesen Gestalten abzurechnen, ohne die freundlichen und mit Empathie ausgestatten Medizin-VertreterInnen zu vergessen.
Wolfgang Brosche schlief ruhig ein, er war nicht alleine, uns bleibt das Gefühl, dass er die zwei Stimmen von mir und meiner Lebensgefährtin noch hören und Berührungen mitbekommen konnte. Er hatte keine Schmerzen, es war ein langsames, ruhiges Ende. Ein solches existenzielles Erlebnis ist schockierend, aber es hatte vor allem selbst in diesem technokratischen Umfeld etwas Würdevolles, Selbstbestimmtes. Verglichen mit dem Zustand im Oktober 2021, als er mal wieder auf der Intensivstation lag, sein Bart abrasiert war und er von den Medikamenten wie ‚weggeschossen‘ wirkte und nur aufgrund von Maschinen noch lebte, einige Stunden, bis er wieder selbst atmen konnte, war das Sterben selbstbestimmter. Wolfgang hatte wieder seinen weißen Vollbart und atmete selbständig, exakt so lange wie er wollte und konnte.
Ich werde die scharfen und vielfältigen Texte von Wolfgang sehr vermissen, auch seine Späße, die er sogar mit dem Krankenhauspersonal mitunter machte und mir erzählte. Es gab schrecklich autoritäre, normalistische, aufs Funktioneren bedachte, eiskalte Züge bei den Pfleger*innen und Ärzt*innen, aber auch engagierte, mitunter wärmere Menschen, die den intellektuellen Charme von Wolfgang faszinierend fanden und genossen. Eine Pflegerin sagte zu ihm, dem linken undogmatischen Gesellschaftskritiker, der noch bei Marx die Apologie der Arbeitsgesellschaft hellsichtig erkannte, jetzt komme wieder „die Blutsaugerin“. Immer wieder mal vergaß Wolfgang das Telefongespräch zu beenden, oder aber er ließ auch mal absichtlich den Ton noch an, so dass ich hören konnte, was passiert, was mitunter auch mal erheiternd war.
Gerade die letzten ca. sechs Wochen vor seinem Tod waren geprägt von einer Aufbruchstimmung, es gab kein Wechselbad der Gefühle mehr, wie so oft in seinem Leben, sondern fast nur noch Optimismus. Er hatte eigentlich gar keine tödliche Krankheit, dafür die anstehende Reha und das alsbald tägliche Laufen im Zimmer, ja im Flur, Dutzende, wenn nicht Hunderte Schritte, Sitzen im Stuhl vor dem Fenster und stundenlang Zeitung lesen oder sich unterhalten, was viel zu selten war, die intensivste Gesprächspartnerin, mit der ich via Telefon und Mail auch intensiven Kontakt hatte, kam ja im Schnitt jeden zweiten Tag so 30-45 Minuten, neben den kurzen Besuchen des Pflegepersonals und den Visiten der Ärzt*innen, wo es in der Auskunftsfreude und Kooperation mit mir deutliche Unterschiede gab, auch das war gegen Ende viel besser geworden. In dem generell doch sehr stark nach Dienst-nach-Vorschrift geprägten, eiskalten Krankenhauskomplex war jene Pastorin ein Lichtblick für Wolfgang, wie er mir so eindrücklich erzählte, immer und immer wieder.
Im Winter 2020 hatte Wolfgang eine neue Wohnung bezogen und im Februar 2021 kam dann der fantastische Umzug seiner Tausenden Bücher, was für ein Fest das damals war für Wolfgang! Wolfgang hatte eine herausragende, köstliche Privatbibliothek zur Musikgeschichte, zu Politik, Literatur, der Sexual- und Kulturgeschichte, zum Leben der bunten tropischen Singvögel und vielen Topoi mehr, selbst Fußball und sein Bezug zur modernen Industriegesellschaft gehörte jüngst dazu.
Dazu kommen die Filme, die er sah und besprach und von den Film- und Radiobeiträgen, die er in seinem Leben als Journalist produzierte, ganz zu schweigen. Er kannte über 3600 Filme, wie er mir berichtete, darunter auch Horrorfilme, die er gesellschaftskritisch zu verarbeiten vermochte.
Nach diesen vielen Wochen der körperlichen und psychischen Stabilisierung ging es jetzt am Ende ganz schnell, in nur einem Tag haben Wolfgang die Kräfte verlassen. Er starb so, wie er es wollte, ohne intensivmedizinische Behandlung.
Es war ein riesiges Geschenk, mit Wolfgang befreundet gewesen zu sein.
Was die ganzen Weißkittel nie verstehen werden, hat Wolfgang Brosche vor Jahren festgehalten:
Ja, das Perfideste an dieser Dressur: selbst die Diagnose „Depression“ stabilisiert das System: nun können Therapeuten, Pharmakologen, Kliniken und Kommissionen tätig werden, um die Herstellung der Wiederanpassung in die Wege zu leiten. Was früher das Gefängnis bewerkstelligte (und auch noch heute, nur sozialtherapeutisch verbrämt) und für das Funktionieren der hierarchischen Gesellschaft leistete, das leisten heute die Klinik und der Psycho-Medizinkomplex, wie uns Foucault längst gezeigt hat. (Zur Hellsichtigkeit von Foucault, Deleuze und Hocquenghem ein nächstes Mal, man soll mir ja nicht sagen, ich würde im luftlosen Raum argumentieren.)
Natürlich gibt es millionenfaches Leid in dieser Gesellschaft, die bedrückende Unendlichkeit der Depression. Aber wie das Christentum keine Tragödie erträgt und das Lebens-Recycling als Tröstung anbietet (natürlich nur bei Wohlverhalten), so bieten Klinik, Sozialindustrie und Jobcenter die Verheißung der „Wiedereingliederung“. Nur eines ist dabei wichtig: Der Traurige, der Trauernde, der Depressive, der Leidende muss aktiv bei der Selbstblendung mitmachen und sein Leiden vergessen – wenn er das aber nicht kann, dann ist er ein Störfaktor, gilt – wie ich erst vor wenigen Tagen wieder einmal von jenem Leidenden hörte, dem das Leben in dieser zweckgebundenen Welt nicht gelingt, als widerspenstig, nicht anpassungsfähig, als störrisch – selbst Schuld.
Die Depressiven leiden aber nicht an sich – sie leiden an der Welt.
Sein Kampf gegen die Homophobie und gegen klein- wie großbürgerliche, herkömmliche Familienstrukturen, war ganz zentral. Das einfache und konventionelle pro-natalistische Weltbild war ihm zuwider. Da fehlten die sprühenden Funken, die Freiheit, die Autonomie. Eines der letzten Bücher, die Wolfgang las, war Verena Brunschweigers „Fuck Sexism“ das im September 2021 erschienen war. In seiner vorletzten Mail am 20. September 2021 schrieb er mir: „lieber clemens, der austausch mit verena brunschweiger funktioniert phantastisch – ich wünschte, so ein intelligenter und gebildeter mensch und dazu noch mit soviel anspielungsreichem humor wäre hier!“ Wolfgang Brosche hat viele Jahre für den WDR gearbeitet, ich kenne diese Arbeiten, Filme, Radiobeiträge, leider (noch) nicht. Er war ein Freund der Tiere und hatte Papageien als Mitbewohner. Sein letzter Papagei war „Othello“, sein sich an Shakespeare orientierender, nachplappernder Plüsch-Kumpel, der das Krankenhaus etwas erträglicher machen sollte.
Wolfgang Brosche war ein studierter Theaterwissenschaftler, aber vor allem ein großer Sozialpsychologe, der noch die subtilsten Verästelungen von Herrschaft erkannte und so scharf wie niemand bekämpfte, da er selbst auf vielfältige Weise zeitlebens Objekt war bürgerlich-patriarchal-kapitalistischer Verwerfungen. Doch er kämpfte als Subjekt mit allen Mitteln dagegen.
Er hinterlässt ein vielfältiges Werk aus Essays, Kolumnen, Romanen, Geschichten, Glossen, Filmen, Radiobeiträgen, die für Intellektuelle Anregung und Mahnung sein können, wenn sie denn Ohren und Augen haben für seine Kritik. Bis zuletzt wehrte sich Wolfgang gegen die irrationalen Zumutungen unserer Zeit. Vor wenigen Wochen zwang ihn eine besonders irrationale und fanatische Ärztin beim Blutabnehmen im Krankenhaus (nicht die sympathische „Blutsaugerin“, eine Krankenschwester), sich zu maskieren: einem Patienten mit massiven Atemschwierigkeiten aufgrund von Aspiration eine Maske aufzuzwingen, weil eine durchgeknallte ‚Ärztin‘, die dreimal gespritzt war, lieber einen Patienten leiden sieht und weder an ihre eigene sinnlose Maske glaubte, noch an ihre ‚Impfung‘.
Wir wissen, dass Geimpfte exakt so intensiv und so lange infektiös sein können wie nicht geimpfte Menschen. Das machte das Ausschließen von ungeimpften Menschen so willkürlich, irrational und menschenfeindlich – Wolfgang war nicht der einzige Patient, der auf diese Weise massiv beschädigt wurde durch die 2G+-Impfapartheid und den ausbleibenden Besuch. Die geimpfte Ärztin war genauso eine ‚Gefahr‘ fürs Krankenhaus oder Patient*innen wie ein ungeimpfter Besucher.
Die unwissenschaftlichen, irrationalen und menschenfeindlichen Oberärzte verweigerten also dem denkenden Teil der Bevölkerung, Angehörige oder Freund*innen im Krankenhaus zu besuchen. Am Sterbebett ging es dann plötzlich doch, ohne jedes „G“ und ohne jeden Test konnte man in diese Anstalt. Ob die drei Krankenschwestern und der Arzt, die ziemlich abstandslos mit uns sprachen, das überlebten, ist unklar und unwahrscheinlich in der Logik der Zeugen Coronas.
Wolfgang wollte ein kleines Fest machen in seiner Wohnung, wenn er aus der geplanten Reha zurückgekommen wäre, mit den paar Freund*innen, die ihn unterstützt hatten.
Doch nach seinem Tod wurde klar, wie wenig die Menschen heute mit dem Tod umgehen können. Damit sind gar nicht Mal jene unglaublich anmaßenden 95-jährigen gemeint, die ja tatsächlich meinten „I am not ready to die, lockdown this world!“, sondern jüngere Bekannte von Wolfgang Brosche, die, von wirklich ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, schwiegen oder sich zurückzogen.
Dabei war Kommunikation, auch telefonische, so wichtig für ihn. Wolfgang und ich telefonierten seit Ende September 2021 täglich und immer war Ivan Illich mit dabei, der die überragende Bedeutung des Sich-Selbst-Kennens als ‚Kranker‘ so betonte und der Institution Krankenhaus skeptisch gegenüberstand. Und dann kommen noch unprofessionelle Pflegedienste mit dazu. In seiner letzten Mail an mich vom 21. September 2021 um 3.38 Uhr am Morgen schrieb mir Wolfgang, „jetzt ist es passiert“. Aufgrund unfassbarer und mehrere Tage dauernder Nicht-Behandlung eines eigentlich relativ harmlosen Problems kam es zu einer Sepsis. Das war der Anfang vom Ende. Eine Fehlbehandlung von inkompetenten und menschlich ziemlich desolaten – das muss man so sagen, wie oft hatte er mir von diesen autoritären Würstchen berichtet! –, Existenzen, schlechte Bezahlung im Pflegebereich und gute oder fehlende Deutschkenntnisse hin oder her.
Doch die mentale Stärke, mit der Wolfgang über viele Monate gekämpft hat, die war einzigartig, das sagten mir auch Ärzt*innen, die schon viel erlebt hatten. Die Ärzt*innen auf der Intensivstation betonten, wie wichtig, ja entscheidend persönliche Besuche sein können. Das war vor der Impf-Apartheid, wo diese Erkenntnisse dann nichts mehr zählten. Besonders rührend war eine deutsch-russische Intensivpflegerin, die Wolfgang an jenem Tag im September 2021 ankommen sah und Wochen später betonte, wie stark er sich in jeder Hinsicht verbessert hätte. Die beiden flachsten über russisches Essen, da Wolfgang so gerne Borscht kochte und sie dazu einlud, wenn er wieder Zuhause ist. Diese Pflegerin konnte er auch wiedererkennen trotz Maske, da sie lange schwarze Haare und dunkle Augen hatte, ja sich besonders herzlich um ihn kümmerte. Doch der ungemeine Personalwechsel im Krankenhaus, auf Intensiv- wie Normalstation war gleichwohl sehr belastend, bis auf die Pastorin gab es keinen Fixstern in diesem medizinischen Universum mit seinen hierarchischen Strukturen und neoliberalen Verwertungsformen.
Wolfgang Brosche wollte ein Buch schreiben über seine Erlebnisse in der Anstalt Krankenhaus und über den Umgang von ‚Pflege’diensten mit Patient*innen. Er hatte dazu schon viel Material gesammelt. Und er hat sogar in diesen Situationen noch Späße gemacht, mitunter Lieder seiner Diven gesungen oder andere Lieder, hatte gerade gegen Ende sehr gute Beziehungen zu verschiedenen Mitarbeiter*innen, dem Physiotherapeuten und vor allem jener Pastorin, die dem ungläubigen linken Gesellschaftskritiker mit viel Empathie zur Seite stand und sich mit ihm über Politik, Kultur, Philosophie unterhielt.
Wolfgang Brosches Analyse von Hans Christian Andersens Märchen ist bestechend und gibt uns einen Blick in sein Leben:
Die Entlein Friedrich oder Hans-Christian müssen leiden, weil sie so sind wie sie sind. Wie kann ein solches Entlein wissen, daß es mit jeder Faser seines Körpers und jeder Sehnsucht nach Liebe genauso viel wert ist wie alle anderen, daß in ihm Schönheit und Liebenswertes schlummern – vor allem nicht, wenn man es ihm nicht sagt, sondern ihm dagegen jeden Mut nimmt, verächtlich klein und niedrig und schäbig und häßlich schimpft, bis es selbst daran glaubt, verdrängt wird, nicht einmal den Mut zum Widerstand schöpfen kann, nachgibt, sich zurückzieht ins Zwielicht und schließlich in die Schatten, damit es dann allein auf dem Teiche schwimmt, sich in vorauseilendem Gehorsam absondert und den anderen sogar in ihren vernichtenden Attacken recht gibt, das selbst sein Leben einschränkt indem es immer kleinere Kreise im kalten Wasser zieht, allein in die Nacht eingeht, sogar einfriert, weil die anderen ihm seinen Bewegungsspielraum nicht gönnen – das festsitzt in der einsamen Kälte…
Wolfgang befasste sich mit dem Faschismus, den Nazis, dem Nationalsozialismus, den Neuen Rechten, dem Schwulenhass und männlich-faschistoider Gewaltorgien und ihren Protagonisten von Donovan bis Höcke. Aber er war ein Mensch, der das Leben auch liebte, der sich mit den schönen Dingen im Leben, Musik, Essen, Trinken, Tieren, Pflanzen, Natur, Film, mit Ethik und Ästhetik eingehend befasste. Er hatte über 100 Kochbücher.
Wolfgang liebte die Schönheit und dazu hatte er Augen und Ohren, sie zu erkennen. Er hatte einen internationalen Presseausweis, mehr von seinem Leben als Journalist zu erfahren von Weggefährt*innen wäre sicher interessant, dort, wie in seinen Romanen und Geschichten schlummert viel von seinem Leben, das Geborgenheit und Zärtlichkeit suchte, und nicht oder nur temporär finden konnte – was ihn in Anlehnung an Danielle Darrieux (1917-2017) zur Ablehnung oder Verwerfung des Begriffs Liebe führte -, was nicht nur, aber in besonderem Maße in seiner Geschichte an der homophoben Struktur, sowie auch und gerade an der atomistisch-isolierten Verfasstheit der bürgerlichen Welt liegt, oder am Konzept Liebe überhaupt:
Was also haben wir Danielle Darrieux zu verdanken? Etwas, was vielleicht nur Catherine Deneuve mit ebensolcher französischen Leichtigkeit darstellen könnte – und zwar auch in allen Altern ihrer Karriere – die so lange dauern könnte wie von Darrieux, Deneuve hat bereits 50, Darrieux aber 80 Jahre geglänzt….
Was war es…haltet Euch fest, das wollt ihr nicht hören: Danielle Darrieux hat uns auf zärtlichste Weise gezeigt daß es keine Liebe gibt, daß wir einsam sind, daß es nur aufregende Phantasmen der Zuneigung gibt, Illusionen der Treue und die Taschenzauberei der vorübergehenden Geborgenheit.
Die Privatbibliothek von Wolfgang Brosche war sein Leben. Sie zu verlieren, nach Monaten der Abwesenheit, war seine größte Sorge, und er hat sie nicht verloren, sie war immer seins, da lebte er, da litt er, da weinte und lachte er, neben den Filmen und der Musik war die Literatur, die Philosophie, die Gesellschaftskritik in all ihrer linken Vielfalt sein Leben.
Einer seiner letzten Texte war eine Sammelrezension im April 2021, worunter sich das Buch „Die Erotik des Ohrs. Musikalische Erfahrung und Emanzipation nach Adorno“ von Iris Dankemeyer befand. Darin schrieb Wolfgang über Masken:
Besondere Freude haben dem Theaterwissenschaftler wegen ihres aktuellen Bezuges die „Masken“ von Manfred Brauneck gemacht, etwas Grundliegendes: der Autor war Direktor des Institutes für Theaterforschung und breitet sein stupendes Wissen über die großen Theaterformen, in denen Masken die entscheidendende Bedeutung haben, aus: das antike griechische, das japanische Theater und die Commedia dell´ arte. In allen drei Theatern sind Masken geradezu konstituierende Elemente, die Figuren und Typen entstehenlassen und enthüllen oder verbergen.
Ein Schlußkapitel des Buches berücksichtigt Masken in Kulten Afrikas, Asiens und Ozeaniens.
In einem klugen Vorwort macht Brauneck deutlich, daß die im Zuge der Corona-Pandemie Alltag gewordene Maske keine kultische Basis hat – oder ist das ängstliche Tragen der medizinischen Gebrauchsmasken nicht auch schon wieder Ausdruck eines Gesundheitskultes? Die „Corona-Masken“ aber gestalten keine Gesichter, sie überhöhen nicht, sie rauben Gesichter, sie verhindern den Ausdruck. Sie haben durch ihren Ursprung im Operationssaal nichts Spielerisches, nichts Performatives wie im Theater oder anderen kultischen Bereichen, in diesen, betont der Autor, helfen Masken Wirklichkeiten sui generis zu erschaffen: die Erhabenheit etwa der griechischen Tragödie, das komödiantische Intrigenspiel der Commedia oder das Mystifizierend-Poetische der japanischen Kultur. Und doch denk ich mir nach dem erhellendem Lesen dieses durch Fakten aufschlußreichen Buches (was ja heutzutage schon besonders ist) – schafft nicht auch auf ihre Weise die Corona-Krise vermittels Masken eigene gesellschaftliche Wirklichkeiten?
In dem Buch von Dankemeyer hat sich Wolfgang viele Stellen markiert, im folgenden Zitat sind die Worte „Nilpferd“ und „Korpulenz“ in seinem Exemplar handschriftlich eingekreist:
Das Nilpferd ist ein gewichtiges Tier, das nichts so schnell über einen Abgrund wehen kann. Seine Konstitution hält auch extremen Belastungen stand: Es ist gepolstert, nicht gepanzert, ‚zäh‘ und nicht etwa gestählt. Unerschütterlich erhält der Dickhäuter unter ‚Speckschicht‘ und ‚Fleischmassen‘ seine ‚Substanz‘, seinen Wesenskern. Die eigene Korpulenz ist die letzte Schutzschicht, die das nackte Elend vom menschlichen Tier fernhält, für das es sonst keinen Schutzraum, keinen Rückzugsort und kein Zuhause mehr gibt.
Eine weitere Stelle hat er markiert:
‚Liebe zählt die Stunden bis zu jener‘, in der man ‚ohne Angst verschieden sein‘ kann.
Wenige Tage vor seinem Tode zitierte Wolfgang mal wieder Thomas Mann, ja rezitierte spontan den Zauberberg, wie mir berichtet wurde. Er hatte sich sein Exemplar am 9.8.1982 gekauft, seine später erworbene Thomas Mann Gesamtausgabe, die er immer wieder anführte, ja der Gedanke an sie erwärmte sein Herz in schlimmen und aussichtslosen oder mental niedergeschlagenen Phasen im Krankenhaus. Und doch: noch im Krankenhaus bewunderte er die unsagbare Schönheit mancher Pfleger, was zurückführen mag, in ganz anderem Kontext, zu einer Stelle, die ihm besonders wichtig war im Zauberberg, das ist einer der Abschnitte, den er hervorhob und womöglich die eigene Schulzeit vor Augen, also ein Beziehungsgeflecht von Gleichaltrigen im Visier hatte:
Der Knabe, mit dem Hans Castorp sprach, hieß Hippe, mit Vornamen Pribislav. Als Merkwürdigkeit kam hinzu, daß das r dieses Vornamens wie sch auszusprechen war: es hieß ‚Pschibislav‘; und dieser absonderliche Vorname stimmte nicht schlecht zu seinem Äußeren, das nicht ganz durchschnittmäßig, entschieden etwas fremdartig war. Hippe, Sohn eines Historikers und Gymnasialprofessors, notorischer Musterschüler folglich und schon eine Klasse weiter als Hans Castorp, obgleich kaum älter als dieser, stammte aus Mecklenburg und war für seine Person offenbar das Produkt einer alten Rassenmischung, einer Versetzung germanischen Blutes mit wendisch-slawischem – oder auch umgekehrt. Zwar war er blond – sein Haar war ganz kurz über dem Rundschädel geschoren. Aber seine Augen, blaugrau oder graublau von Farbe – es war eine etwas unbestimmte und mehrdeutige Farbe, die Farbe etwa eines fernen Gebirges –, zeigten einen eigentümlichen, schmalen und genaugenommen sogar etwas schiefen Schnitt, und gleich darunter saßen die Backenknochen, vortretend und stark ausgeprägt, – eine Gesichtsbildung, die in seinem Falle durchaus nicht entstellend, sondern sogar recht ansprechend wirkte, die aber genügt hatte, ihm bei seinen Kameraden den Spitznamen ‚der Kirgise‘ einzutragen. Übrigens trug Hippe schon lange Hosen und dazu eine hochgeschlossene, blaue, im Rücken gezogenen Joppe, auf deren Kragen einige Schuppen von seiner Kopfhaut zu liegen pflegten.
Nun war die Sache die, daß Hans Castorp schon von langer Hand her sein Augenmerk auf diesen Pribislav gerichtet, – aus dem ganzen ihm bekannten und unbekannten Gewimmel des Schulhofes ihn erlesen hatte, sich für ihn interessierte, ihm mit den Blicken folgte, soll man sagen: ihn bewunderte? auf jeden Fall ihn mit ausnehmendem Anteil betrachtete und sich schon auf dem Schulwege darauf freute, ihn im Verkehre mit seinen Klassengenossen zu beobachten, ihn sprechen und lachen zu sehen und von weitem seine Stimme zu unterscheiden, die angenehm belegt, verschleiert, etwas heiser war.
Was gleichwohl politisch problematisch ist, war Wolfgang Brosches Position zur Brit Mila, da griff seine ansonsten treffende Kritik des spießig-bürgerlich-affirmativen grünen Schwulen Volker Beck voll daneben („Dass er sich allerdings auch für das Recht auf Knabenbeschneidung einsetzte, ist seiner eben auch bürgerlich-religiösen kognitiven Dissonanz zuzuschlagen.“). Da war und ist Volker Beck in puncto Kritik des Antisemitismus, der eine Kritik antijudaistischer Ressentiments wie namentlich der Ablehnung der Knabenbeschneidung inkludiert, einen entscheidenden Schritt weiter als Wolfgang Brosche, der aber an diesem Punkt für sehr viele Linke und auch ganz normale Deutsche exemplarisch stehen mag. Denn an diesem doch sehr typischen deutschen Punkt (in den USA ist die Ablehnung der Beschneidung kein wirkliches Thema) war dann Wolfgang doch Teil des Mainstreams und Volker Beck hat hier mehr Erfahrung mit der Kritik an allen Formen des Antisemitismus, die weit über die Kritik an Neonazis, Holocaustleugnung, Israelhass oder Verschwörungsmythen hinausgeht. Darüber hätte man also noch diskutieren müssen mit Wolfgang, was jetzt leider nicht mehr möglich ist.
Wolfgang Brosche sprach mit seinen Büchern wie auch mit den Leserinnen und Lesern:
Was einer Pfarrerstochter wie mir bloß über den Schreibtisch kömmt: der „campus verlag“ schickt mir von Norman Domeier und Christian Mühling: „Homosexualität am Hof“, Praktiken und Diskurse vom Mittelter bis heute“; also nicht, was ihr denkt, von wg. Praktiken und so – sondern: wie verfuhr man mit der -Tatsache, daß Höflinge und Monarchen schwul waren, also der heterosexuellen dynastischen Norm nicht entsprachen. Der Band reicht von Edward II., über den Alten Fritz bis Prinzessin Diana. (…)
Eine Erkenntnis Adornos zur Erotik des Ohrs berührte mich insbesondere: der mimetische Drang, das Vergnügen des Kindes, nachzusprechen, nachzusingen, was ihm vorgetragen wird…ein Phänomen, das leider nicht gefördert, sondern unterdrückt wird: Lese- und Kulturlust werden nur allzu oft noch unterbewußt abgewehrt und unterdrückt wie die Selbstbefriedigung des Kindes. Dabei geht es um das Erfahren der Welt: ein Kind, das sich Gehörtes begeistert erzählt, betreibt mimetische Aneignung, eine erregende und erregte Erfahrung, die Nähe zur verpönten und bekämpften Onanie ist deutlich; diese Eigenerotik wird bekämpft aus patriarchalem Impetus heraus. Selbstbestimmte Erotik gefährdet das Patriarchat.
Überhaupt stört Adorno die Lustfeindlichkeit der Gesellschaft, vor allem der studentischen Academica und er wundert sich, daß so wenige seiner Studenten Lust haben zu „fliegen“, sich also selbstbewußt und voller Neugierde dem eigenständigen Denken hinzugeben.
Im Mai 2021 schrieb mir Wolfgang:
ich wünschte du würdest so ein vade retro auch in sachen „kulturverachtung“ (anne sophie mutter) unserer politiker loslassen – mich juckt´s dazu in den fingern… wie wenig kultur geachtet wird und zwar immer schon vor der pandemie, wird jetzt deutlich. sie ist durch die faktischen „BERUFSVERBOTE“ – evident geworden – wieviele mußten konkurs und insolvenz anmelden?, auch wenn das verfassungsgericht bayern den zusammenhang ablehnt. aber die „vernichtung“ der kultur bis in feinste verästelungen trägt nur dazu bei den kapitalistischen mainstream zu stützen. du darfst zur arbeit und sei´s im home-office, aber nicht zum beethoven-konzert oder zur bibliothekslesung. kultur ist ja ein störfaktor – der aktuelle dämpfer sitzt tief…wie lange kann man den zustand noch anhalten? quo usque tandem patientia nostra abutere, jens spahn, angela merkel et cetera.
Mit Wolfgang Brosche verlieren wir einen wundervollen Menschen, einmaligen kritischen Autor und scharfen Linksintellektuellen. R.I.P. – Requiescat in pace (Zauberberg).
Bielefeld/Heilbronn, 11.4./19.4.2022, Clemens Heni, Verleger Edition Critic